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Barockes Theater - Trendeindrücke zur Mailänder Möbelmesse 2006

(18.7.2006) In diesem Jahr erschien Udo Tünte, Leiter Entwicklung & Innovation bei Parador, Mailand wie ein barocker Maskenball. Das Motto der grössten Möbelparty der Welt hieß offensichtlich: Schwarz - Weiß - Barock. Damit war so gut wie alles erlaubt, was übrigens von grossen wie kleinen Designern schamlos ausgenutzt wurde: Neobarocke Opulenz, Ornamentik und Kitsch.


alle Fotos: Parador

Eindrucksvoll kreativ und mit Mut zum Experiment sprudelte es dagegen vor allem vor den Toren der neuen Messehallen, rund um die Via Tortona. Das "Szene Viertel" Mailands vermochte zu begeistern und zu inspirieren.

Wie Spassbremsen wirkten dagegen die Vertreter der Moderne. Die Minimalisten und die soliden Designhandwerker folgten standhaft und scheinbar unter stillem Protest wieder ihrem reduzierten Kurs, nachdem ihnen ihre neue Lust auf Ornamente, die sie noch im vergangenen Jahr zur Schau gestellt hatten, vergangen war (siehe Beitrag "Mailand 2005 - Die neue Lust auf Ornamente" vom 9.5.2005). Viele von ihnen erinnerten, wohl sich selbst ermahnend, an die Heldentaten ihrer Väter und Urväter, indem sie ihre Design-Ikonen und zugleich Bestseller in den Mittelpunkt rückten. Einige hatten sich, wohl um nicht untrendy dazustehen, teils verlegen, teils keck schließlich doch noch eine barocke Pappnase aufgesetzt.

Neobarock

Schaubühne für das neobarocke Lebensgefühl war der "Salone del Mobile", in der neuen Messe Mailand. Hier ist ein moderner, neuer "Messeraum" mit beeindruckenden Ausmaßen entstanden, allerdings auch mit mühsamen "zu Fuß"-Distanzen. Ein Ort, an dem man zunächst ein wenig die Nestwärme und das Familiäre der alten Messe vermisst. Die neue "Flughafenarchitektur" ist architektonisch gewiss überzeugend. Vertraut war einzig das "alte" Gebrechen, das sie scheinbar geerbt hat: Die chaotische An- und Abfahrtlogistik und die verwirrende Wegeleitung auf dem Messegelände sorgten bei Rekordbesucherzahlen für dichtes Gedränge.

Ludwig der XIV ist offensichtlich den kleinen und großen Designern abermals im Traum erschienen mit der Botschaft: Schwelgt und feiert mal wieder richtig ! Bei seiner ersten Offenbarung 2004 hatte er Phillippe Starck zu 'Louis Ghost' inspiriert. Wer dachte, dass mit diesem Stuhl der Barock im Design abgefeiert sei, wurde eines Besseren belehrt. Lediglich Marcel Wanders gesteht Udo Tünte noch eine weitere barocke Urheberschaft zu.

Barock ist ein portugiesisches Wort und bedeutet "unregelmäßig geschliffene Perle". Im 16. Jahrhundert erhält es in Frankreich die Bedeutung "sonderbar, lächerlich". Es wird auf die zeitgenössische Kunst übertragen und soll sie als regelwidrig, bizarr und schwülstig kennzeichnen gegenüber der Klarheit und Harmonie der Renaissancekunst.

Die heutige Designwelt befindet sich in einer ähnlichen Situation. Die Moderne, mit ihren Ursprüngen im Bauhaus übernimmt dabei die Rolle der Renaissance. Sie steht für eine klare und schnörkellose Formensprache, bei der Funktion und Form im Einklang stehen. Der Barock der Jetztzeit hingegen ist mittlerweile ein Heer von Designrebellen, die sich einer Art emotionaler Revolution verschrieben haben, die die Vorherrschaft des rationalen Designs brechen soll. Dabei ist ihr scheinbar jedes Mittel recht, wenn es nur die Sinnesfreude stimuliert.

Dramatische Hell–Dunkel-Kontraste in schwarz und weiß, oftmals verbunden mit üppiger Ornamentik, bestimmten in diesem Jahr die Gestaltung von Räumen und Möbeln. Viele Messestände wirkten wie barocke Bühnen, mit starkem Drang zu Theatralik, Opulenz, Bewegung und überladener Selbstdarstellung.

Von mondänen "Schwarz in schwarz"-gehaltenen Räumen bis hin zu himmlisch wirkenden "Weiß in weiß"-Gestaltungen reichte das Spektrum der Messearchitekturen, als Zwischenlösung sah man schwarz-weiße Raummalerei. Gold, Silber und kristalline Lichteffekte erzeugten den erwünschten grotesken Beigeschmack. Wolkenartige, weiße Lichtskulpturen und Ballons, die an Reispapierleuchten erinnern, schwebten lichtgebungsvoll in der Dunkelheit.

Einige nehmen den Barock beim Wort und zitieren ihn, andere nehmen es nicht so genau: ein bisschen Barock, ein bisschen Klassizismus mit einer Prise Jugendstil. Mit zu ihren Anführern gehört der Hersteller Moooi mit Marcel Wanders, der seinen ganz in schwarz gehaltenen Stand in der Via Tortona mit theatralischer Gestik inszeniert. Mit viel Ironie und der Gratwanderung zum Kitsch werden hier neobarocke Gedanken überzeugend und unterhaltsam vorgetragen, durchaus gekoppelt mit innovativen Materialgedanken, wie z.B. wuchtige Antikschränke und Kronleuchter von Studio Job, gebaut aus laminiertem Papier und durch ihre Leichtigkeit verblüffend. Horse lamp, Rabbit lamp und Pig table, alle schwarz und lebensgroß, sind gelungene animalische Veralberungen der Designer Frauenriege "Front".

Sawaya und Moroni zeigten Tische mit Beinen aus geschliffenem Kristallglas mit neonfarbenen Glasplatten, mit anderen Worten 'Avantgarde Kitsch'. Ycami präsentiert Schwarz-in-schwarz-Ornamentik mit opulenter Exotikdekoration. Die Frage nach einem Identitätswandel drängt sich auf, wenn man auf das bisherige modern orientierte Aluminiummöbel-Sortiment blickt.


Ein typisch barockes Stilmittel ist die Überlagerung und Überladung der Raum- und Möbelkonturen mit schwülstiger Ornamentik. Hier wuchern historische Rocaillen, florale und retrografische Verzierungen: Zanotta umhüllt sich mit einem Brautkleid aus floraler Spitze. Raumteiler, Vorhänge in üppig geblümter Stanzoptik oder Bausätze für fragile Strukturen, die allesamt Raumverwirrung stiften, werden von vielen Neo-Barocken Jecken getragen.

Mode, Fun, Kunst und Mut zum Experiment

Andere propagierten, bewusst oder unbewusst, ein barockes Lebensgefühl und drückten dies mit zeitgemäßen Mitteln aus: Mode, Experiment, Fun und Künstlerisches.

Eine kraftvolle Schwarz-weiß-Inszenierung bot Moroso. Patricia Urquiola, Martino Berghinz und die Künstlerin Corinna Cadetto schufen ein bewegendes Gesamtkunstwerk: Vertikalrollos mit expressiven schwarz-weiss Grafiken rollten sich ständig auf und ab. Eine Raumillusion, bei dem die Exponate schnell ins Hintertreffen geraten. Dennoch - auch inhaltlich setzte Moroso neue Impulse: Die Symbiose von Mode und Möbel.

Der "Ripple Chair" ist ein interdisziplinäres Projekt zwischen Ron Arad, A-Poc und dem Modedesigner Issey Miyake. Es wurde eine Kollektion aus Stola, Jacke, langer und kurzer Hose entworfen, die sowohl dem Ripple Chair als auch seinem Besitzer gut stehen. Auch "Antibodi", eine Liege von Patricia Urquiola, trägt modisches Blattwerk. Moroso ist auf dem besten Weg sich zum emotionalen Desginführer der Branche zu entwickeln.

Ebenso dramatisierte Vitra mit dem Standkonzept der Bouroullecs Brüder. Diese falteten terracotta- und blaugraue textilbezogene Pappen zu schuppigen Skulpturen, die wie Fragmente von Urzeitreptilien anmuteten. Davor präsentierte Vitra seine Designklassiker und z.B. das kubisch asymmetrische "Polder Sofa" von Hella Jongerius aus 2005 mit aufgenähten Knöpfen im Polster.

Der Stand von Quinze und Milan überraschte mit einer bizarren Lichtskulptur und mit nicht zu überhörenden Bargroove Rythmen. Arne Quinzes "Unisex Light" glich einem Geweih, das sich durch Wandspiegelungen verwirrend vervielfacht. Sehr zahm dagegen wirkte die "By the pool collection", outdoor Stahlrohrmöbel, die auf Sandboden präsentiert wurden. Ob Arne Quinze sich tatsächlich zum "Designtiger" entwickelt, mit dem er sich offensichtlich vergleicht, bleibt abzuwarten.


Funmöbel waren bei Magis, Ferlea, Heller oder Campeggi zu sehen, wie z.B ein Trampolin-Sitzobjekt oder ein Tamburine, das Tisch und Musikinstrument zugleich ist. Meritalia zeigte sich mit Mut zum Experiment und Edra künstlerisch mit "Brasilia"-Tischen aus trapezförmigen Glasflächen der Campana Brüder.

Horm zeigte mit Steven Holl im Zeichen der neuen Kristallinität ein prismenförmig, gefaltetes Sideboard in Nussbaumoberfläche mit filigran gelasertem geometrischem Lochbild. Das Perforieren der Oberfläche ist derzeit ein beliebtes Gestaltungsmittel. Was früher sowohl in der Konstruktion als auch in der Fertigung mühsam war, ist heute mit digitalen Werkzeugen fast ein Kinderspiel. Digitales Design und Produktion entwickeln sich zu Standardtools. Sie eröffnen und erleichtern besonders den Organikern unter den Gestaltern, wie z.B. Ross Lovegrove, Karim Rashid oder Odue Concept ihre Designsprache zu formen, verführen allerdings auch dazu das ganze Geschraubte und Verschlungene zu konstruieren.

Das Stiefkind der Messe war der Salone Satellite, die Plattform für den Designnachwuchs. Am Rande der Messe in einer Zeltarchitektur platziert, schlecht ausgeschildert, präsentierten sich experimentierfreudig und engagiert die Jungdesigner. Gleich im Entree war Alien Syndrom, eine innovative Licht–Sound Skulptur von Douglas Mont installiert, gefolgt von einer Vielzahl von Ideen und beachtlichen Entwürfen der jungen Wilden.

Zona Tortona- Ort der Hyperkreativität

Vielleicht sollten die Jungdesigner im nächsten Jahr eher in die Zona Tortona gehen, denn abseits der neuen Messe, rund um die Via Tortona im Südwesten Mailands, brodelte es vor Kreativität. Was sich hier entwickelt hat ist ein Jahrmarkt aus Design, Kunst und Aktion, auf dem sich gleichberechtigt Profis, Amateure und Dilletanten darstellen und das nahezu rund um die Uhr. Mittlerweile ist die Zona Tortona längst ein Muss für jeden Mailandmessebesucher, für das man allein zwei Besuchstage einplanen sollte.

Einmalig ist das Flair heruntergekommener, ungeschönter Industriearchitektur, kombiniert mit Design-Improvisationen und perfekten Inszenierungen. Junge Labels präsentieren sich mit extremen Ideen und Experimenten, dazwischen inspirierende Kunstausstellungen und Designflohmärkte wie Pitti Living mit allerlei Kuriositäten. AEG wartete in Coffee & Cool mit einer massiven Mammut-Holztafel auf und bot als Imbiss eine Erdnussorgie. Auf den Straßen gab es spontane Präsentationen mit umgebauten Autos als mobile Showrooms. Kurz gesagt ein Ort der Hyperkreativität. Für Udo Tünte das eigentliche Highlight der Messe.

Die Moderne dreht sich im Kreis

Weit abgeschlagen dieser ganzen emotionalen Design-Aufregung standen die Vertreter der Moderne, die etablierten Edelmarken des internationalen Möbeldesigns: Cassina, B&B und Molteni, Poliform, Lignet Roset, Capellini, und Driade. Nachdem einige im letzten Jahr eine florale Auszeit genommen hatten, versuchte man sich in diesem Jahr wieder auf die alten Tugenden zu besinnen.

An das Motto 'schwarz-weiß' hatten sich die meisten gehalten, sowohl mit ihren Innenarchitekturen als auch den Möbeloberflächen. Cassina setzt alles auf "Le Corbusier" und seine LC-Ikonen, als sei damit alles Neue unerreichbar vorweggenommen. B&B versucht die Designklassiker von Morgen zu entwickeln. Dafür stehen die neuen Entwürfe von Antonio Citterio, Naoto Fukasawa, Patricia Urquiola und Uwe Fischer. Gutes Designhandwerk, nur nicht wirklich zukunftsweisend.

Molteni setzte wie alle auf Hochglanzmöbel und schien die Farbe grün zum Trend der Messe machen zu wollen, hatte damit nur leider das Messemotto knapp verfehlt. Der Trend zu Hochglanz–Lackoberflächen aus den letzten Jahren wiederholt sich: Reduzierte, horizontal ausgerichtete Kubenkompositionen in weißem und schwarzem Hochglanzlack dominieren. So auch bei Poliform, MDF Italia und Porro. Nach der Teakflut im letzten Jahr ist es ruhig um Holzoberflächen im Möbeldesign geworden. Auch die schokofarbene Eiche wird kaum noch ausgestellt. Vereinzelt tauchen Edelhölzer auf. Ebenso sind die Farbreihen des Retrodesigns gelb, orange, rot, violett und creme rückläufig. In den Polsterkollektionen finden sich nach wie vor grafische und florale Ornamentik, jedoch sparsamer präsentiert.

Cappellini hat an Kraft und Profil verloren, wie insgesamt der Auftritt der Poltrona - Frau Gruppe nicht faszinierte. Ein neobarocker Tisch 'New Antiques' von Marcel Wanders, daneben ein schlichter Bürostuhl 'Lotus' von Jasper Morrison, einem der wenigen, soliden Handwerker der guten Form, sind Neuheiten aus der Cappellini Collection. Auch Gufram, ein Kind der 68er Generation, scheint wie eingeschlafen.

Die Rebellen von damals sind müde geworden, außer Gaetano Pesce, mit z.B. neuen Projekten für Meritalia. Lignet Roset stellte ein formal reduziertes Sitz-Liegemöbel mit Kupfer glänzendem Textilbezug von Pascal Morgue aus.

Ron Arad entwickelt für Driade einen spiralförmigen Stahlhocker. Die Vertreter der Moderne scheinen auf der Stelle zu treten. Gewiss entsteht hier nach wie vor gutes Design, doch die Profile werden unschärfer. Das Konzept zu vieler besteht darin die Einzelentwürfe der sich hin- und her reichenden Designprominenz jährlich aneinanderzureihen. Aber wo sind die Zukunftskonzepte und Visionen - fragt Udo Tünte, Leiter Entwicklung & Innovation bei Parador.


Die visionärste Idee war für ihn Z.Island, eine zukunftsweisendes Küchenkonzept von Zaha Hadid für Dupont, gebaut aus dem Werkstoff Corian. Der Entwurf soll zukünftig von Ernestomoda hergestellt werden. Zaha Hadid hat kräftig aufgeräumt mit dem Klischee der Einbauküche. Zwei organische Skulpturen, die frei im Raum stehen, beinhalten die Funktionen "Feuer" und "Wasser". Das Ganze kombiniert mit zukunftsweisender Technologieausstattung: digitale Informations-, Licht-, Sound- und Aroma-Technik. Plastisch geformte Wandreliefs beherbergen die notwendigen Stauräume. Das ganze ist eine Symbiose aus Hightech uns Kunst.

Wo geht die Reise hin ?

Emotionale Extreme sind gefragt. Stilmix total. Alles ist erlaubt  Wir spielen barockes Theater. Den Design-Blick in die Vergangenheit gerichtet produzieren wir Sinnesfreuden. Die Wiese der Moderne scheint abgegrast zu sein und schafft es nicht sich selbst zu erneuern. Das Nützliche hat sie schon zu genüge erfunden. Kunst, Experiment und Mode halten geballt, wie selten zu vor, Einzug ins Möbeldesign und versetzen uns in Erstaunen. Obwohl uns die gegenwärtige Technik die perfekten Werkzeuge dazu bietet, fehlen die Zukunfts-Konzepte und Visionen: Computergestütztes Design und Fertigung, eine Vielzahl innovativer Materialien und Verfahren und bahnbrechende Zukunfts-Technologien. Mit anderen Worten, sie gibt uns die Möglichkeit kühne Gedanken zu realisieren. Was allein fehlt ist der kühne Gedanke und seine Vernetzung mit den technischen Möglichkeiten. An Kreativität und Mut zum Experiment mangelt es nicht. Das hat die Zona Tortona
eindrucksvoll bewiesen. Daher Udo Tüntes Vorschlag für das Motto des nächsten Jahres: Living in the Future!

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