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Von der römischen Garnisonsstadt bis zu 22@Barcelona

(14.10.2010) Eine Stadt zu entdecken, ist wie aus einer Hand zu lesen oder den Fußstapfen am Strand zu folgen - sagt Prof. Doktor Joan-Lluís Zamora i Mestre. Der Anlass: der 5. Roto-Fachpressetag in Barcelona (siehe Google-Maps). Für den Direktor der Fakultät Konstruktion und Architektur an der Universität Politècnica von Katalonien sind die Fenster einer Stadt die Schaukästen der Kultur, des Handels und des Privatlebens. Eine Aussage, die auch auf die dicht bebaute Metropole Barcelona zutrifft. Ihre 2000 Jahre alte wechselvolle Geschichte führte zu einer besonderen architektonischen und stadtplanerischen Entwicklung. Sie gab dem Autor zahlreicher Artikel für renommierte Fachzeitungen eine gute Vorlage für einen lebhaften, im Folgenden zusammengefassten Ausflug in die Historie, Gegenwart und Zukunft der katalanischen Mittelmeerperle.

Rom und Romanik

Einst als römische Garnisonsstadt gegründet, wurde aus dem antiken Barcino "das feste und dichte Barcelona, ein weltoffener Schmelztiegel der Gebräuche und geprägt durch das römische Erbe". Es zeigt sich heute u.a. in den Überresten des römischen Tempels, des Forums oder des Schutzwalls. Da sowohl die Westgoten als auch die islamische Herrschaft kaum Spuren im Stadtbild hinterließen, beginnt der Rundgang im "sichtbaren" Zeitalter der Romanik.

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Sant Pau del Camp

Abgeschnitten vom 'al-Andalus' blühte Barcelona als karolingische Stadt auf. Es wurde zur südlichsten europäischen Stadt, belebt vom romanischen Geist. Die Architektur brachte winzige Außenfenster hervor, die Schießscharten glichen, spärliches Tageslicht abgaben und Innenfenster in Form von Bögen und Vorhallen hatten. In dieser Zeit waren die Fenster aus Holz, schmiedeeisern oder aus transluzentem Alabaster. Um sie herum fanden sich Darstellungen biblischer Geschichten. Ein Juwel der Romanik ist die Kirche Sant Pau del Camp (siehe Google-Street-View und/oder Bing-Maps).

Glanzvolle Gotik

Katalonien reifte während des 13. und 14. Jahrhunderts als Land heran und wurde politisch unabhängig vom karolingischen Norden. Barcelona stieg auf zu einem von vier Zentren der Krone Aragoniens mit Königspalast, Befestigungsanlagen, Kirchen, Klöstern, Krankenhäusern, Werften, Handelshäusern und Villen. Und der stetig wachsende Reichtum der Stadt konnte die enormen Kosten für den Bau neuer imposanter Monumente decken. Das gotische Fenster - die Katalanen schufen eine eigene Variante des gotischen Baustils - war grazil, weil die Konstrukteure neue Techniken zur Verteilung des Gewölbedrucks entwickelten:

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Bogentüren und Fenster mit Setzpfosten zählten zu den Eigenheiten im katalanischen Hausbau der Gotik. Stilmittel, die ihre Umsetzung auch in diesem überdachten Gang über der Carrer del Bisbe finden, der den Palast der Generalitat mit dem Kanonikerhaus verbindet (siehe auch Foto sowie Google-Maps).
Mittelalterliche Baukunst - gut imitiert: Die „Seufzerbrücke“ von Barcelona entstand erst 1926.

Geometrische Strenge zog schlanke Pfeiler nach sich, besonders große Öffnungen bewirkten einen übermäßigen, nur durch Strebepfeiler und Verglasung eingeschränkten Lichteinfall. Bogentür und ein Fenster mit Setzpfosten zählten zu den Eigenheiten im katalanischen Hausbau der Gotik.

Übrigens: Die Kirche La Catedral gehört zu den schönsten gotischen Hallenkirchen Spaniens. Grundsteinlegung erfolgte 1298, aber erst 1448 war der Baukomplex mit dem Schließen der letzten Wölbung des Kreuzgangs fertig gestellt (siehe auch Wikipedia, Bing-Vogelperspektive und Google-Maps).

Rückschritt Renaissance

In der Renaissance verlagerte sich die Wirtschaftskraft vom Mittelmeer an den Atlantik. Barcelona verlor seinen Hauptstadtstatus, was sich auch auf die Entwicklung der Architektur auswirkte: Die Stadt blieb der Renaissance und dem Barock, die anderswo in Europa blühten, fast ganz verschlossen. Zudem hielten die Baumeister an der gotischen Tradition fest. Der Palau del Lloctinent, der Palast der spanischen Vizekönige, ist eines der wenigen Renaissancegebäude der Stadt, erbaut 1549 bis 1557 (siehe Google-Maps und/oder Bing-Vogelperspektive).

Das Renaissance-Fenster mutete manchmal selbst wie ein kleines Gebäude an: mit Giebel, Säulen und Fundament. Transparente Verglasung hielt in Privatgebäuden Einzug; Fenstergitter und Fensterläden erhöhten die Sicherheit.

Barocker Boden

Das barocke Zeitalter als römische Gegenreformation erreichte Barcelona, als dessen Bürger erschöpft am Boden lagen und keine Mittel hatten, ihre Fassaden ordentlich in Stand zu halten und darum auf Kratzputztechnik zurückgriffen. Neue, noble Gebäude wurden nur noch für diejenigen gebaut, die Beziehungen zu Amerika hatten.

Die kleine Kirche Sant Felip Neri gilt als typischer Bau dieser Epoche, errichtet 1748 bis 1752. An ihr gut zu erkennen: Das barocke Fenster ist eher symbolhaltig als edel, eher fantasievoll, kreativ und von ungeschmückter Ehrwürdigkeit. Stattdessen wurden die großen Portale Zufluchtsorte für das Schaffen der Bildhauer und Architekten (siehe Google-Maps).

Not und Neues

Im Neoklassizismus wurde Barcelona zu einer verlorenen Stadt, die im Spanischen Erbfolgekrieg von 1701 bis 1714 unter Bombardement stand und letztlich in spanische Hände fiel. Institutionen, Geld, Gesetze, Wahrzeichen und Sprache gingen verloren. Man zerstörte das mittelalterliche Handelszentrum und brachte die Bevölkerung in ein neues, geschäftsmäßiges Viertel: La Barceloneta, eine Planstadt aus dem 18. Jahrhundert mit schmalen, langgestreckten und in einem rechtwinkligen Straßenraster angeordneten Häuserblocks - siehe Google-Maps:

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Lediglich zwei Geschosse waren erlaubt, damit ausreichend Sonnenlicht in Straßen und Wohnungen fiel. Alles im neuen Barcelona gab sich diszipliniert und geordnet. So präsentierte sich auch das neo-klassizistische Fenster, häufig in Barceloneta verbaut, nüchtern, wiederholend, effizient, ordentlich.

Bürgerliches Barcelona

Es geht aufwärts: Endlich als Spanier zu vollen Rechten gelangt, konnten die einst niedergekämpften Katalanen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihr Glück im Handel mit den neu entdeckten Völkern Lateinamerikas versuchen. (Als mit Kuba und den Philippinen die letzten dieser Kolonien 1898 verloren gingen, galt Barcelona als die führende Wirtschaftsmetropole des Landes.) Baumwolle, Rum und Kohle wurden in Katalonien, der neuen Fabrik Spaniens, verarbeitet. Barcelona füllte sich mit Booten, Dampfern, Eisenbahnen und - Arbeitern. Die massive Einwanderung öffnete sozialen Konflikten die Tür, die sich durch die Enge innerhalb der umgebenden Mauern noch verstärkten. Wohl aus dieser Erfahrung heraus verbrachte Ildefons Cerdà, Bauingenieur und Stadtplaner, ein Leben damit, sein Buch von der Theorie der Stadtplanung zu schreiben (siehe Wikipedia). Es wurde zur theoretischen Grundlage der modernen Stadtentwicklung und skizzierte ein kontinuierliches, gesundes Wachstum einer Stadt und der sie umgebenden Infrastruktur.

Endlich Erweiterung

Das neue Erweiterungsgesetz in Spanien erlaubte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Abriss von Stadtmauern und die Planung wachsender Städte. Der Erweiterungsplan Barcelonas bestand aus der praktischen Umsetzung von Cerdàs Theorien: eine neue Stadt mit Straßenbahn, angepasst, sonnig, mit kleinen Höfen und breiten Zugängen, die sie mit der Umgebung verbinden - Diagonalen, Parallelen, Meridiane. Das neue Viertel erhielt den Namen Eixample, was so viel wie Erweiterung heißt (siehe Bing-Vogelperspektive und/oder Google-Maps). Das Projekt fiel zusammen mit einer Blüte des freiheitlichen Denkens in den Künsten. Nirgends kam das mehr zum Tragen als in der Architektur.

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Gran Teatre del Liceu

Modern(ism)e Momente

Richtig wiederbelebt wurde Barcelona als Gastgeber der Weltausstellung EXPO 1888. Man schuf ein Netz aus neuen "gusseisernen" Märkten. Es entstanden das Opernhaus Gran Teatre del Liceu und der Konzertsaal Palau de la Música Catalana. Die Stadt war wieder reich und ließ sich auf den modernen Stil - den Modernisme bzw. Jugendstil ca. 1880 bis 1910 - ein. Das Fenster des Modernisme ist pure, in das Gebäude integrierte Handwerkskunst: Tropenhölzer, Schmiedearbeiten, Bleiverglasung oder gebogene Hölzer. Das Motto: Fenster so verführerisch und ansprechend wie die Augen einer schönen Dame zu gestalten.

Da sich Spanien im ersten Weltkrieg neutral verhielt, konnte Barcelona seinen Wohlstand bewahren und 1929 mit einer weiteren Weltausstellung die kulturelle und wirtschaftliche Stärke unter Beweis stellen. Man bebaute den Hausberg Montjuïc und bezog ihn in das Stadtgebiet mit ein. Es entstanden weitläufige Parks und Gärten mit zahlreichen Gebäuden für die Weltausstellung - incl. dem Barcelona-Pavillion von Ludwig Mies van der Rohe (siehe Google-Maps). In einem davon befindet sich heute das weltberühmte Museu Nacional d'Art de Catalunya (siehe Google-Maps).

Das bekannteste Bauvorhaben in Barcelona und zugleich eine faszinierende architektonische Symphonie: La Sagrada Família  (siehe Bing-Vogelperspektive und/oder Süd-West-Seite sowie Nord-Ost-Seite in Google-Street-View). Die großen gotischen Kathedralen dienten ihr teilweise als Vorbild. Und wie diese befindet auch sie sich seit über 100 Jahren im Bau. Das Projekt begann 1882 und beschäftigte den Architekten Antoni Gaudí 40 Jahre bis zu seinem Tod. Heute bauen andere nach seinen Plänen - und eigenen. Das kunstvoll verzierte Fenster oberhalb des Portals der Ostfassade zeigt noch ganz im Sinne des Modernisme zahlreiche Figuren - u.a. Gaudís musizierende Engel. Mit zunehmendem Fortschritt am Bau aber wandelt sich die Architektur - siehe auch Beitrag "Korkboden statt Sandstein in Gaudís Sagrada Família" vom 18.2.2011.

Übrigens: Bis 2026, also genau hundert Jahre nach Gaudis Tod, soll die La Sagrada Família mit insgesamt 18 Türmen fertig gestellt sein.

Niedergang und Neubeginn

1936 bis 1939 tobte in Spanien der Bürgerkrieg. In diesem Zeitraum führte Barcelona die Liste der von See und Luft aus bombardierten Städte an. Die Zeiten der Umwälzungen, der Krisen und der Anspannungen stehen einerseits für den Niedergang, andererseits für den Beginn dessen, was sich in den kommenden Jahren entwickeln wird. Ausgerechnet in diesen Jahren erscheinen in Barcelona Bücher über die Entwicklung der Holzfenster-Technik im Laufe des 20. Jahrhunderts, und viele der heute führenden Firmen für Fenstertechnologie werden gegründet.

Nach dem Krieg verzichtete man im Fensterbau grundsätzlich auf die herkömmlichen Materialien, Funktionen und Maßstäbe: Neue Metallprofile und versiegelte Materialien sorgten für ein Umdenken. Vorhangfassaden aus Glas kamen in Mode, die Verglasungsindustrie befand sich im Aufwind.

Unternehmen Gegenwart

1992 stand der Hausberg Montjuïc abermals im Zentrum einer Veranstaltung: den XXV. Olympischen Spielen. Die Demokratie, die Autonomie und die Verbindungen Barcelonas waren längst wieder hergestellt, Straßen und Transportmittel modernisiert, das kulturelle Angebot erweitert und an der Seeseite neue Bauten entstanden.


1992 stand Barcelona ganz im Zeichen der XXV. Olympischen Spiele. Für die Segelwettbewerbe erhielt die Stadt einen neuen Hafen. Hinter dem Port Olímpic erheben sich zwei markante Wolkenkratzer, von denen einer ein vornehmes Hotel beherbergt.

Eine Stadt, so formuliert es Prof. Doktor Joan-Lluís Zamora i Mestre, sollte sich jeden Tag neu erfinden. Für ihn bedeutet das die fortwährende strategische Entscheidung "was wir hinter uns lassen, was wir wollen und wie wir das erreichen wollen. Man kann sagen: Eine Stadt ist mit einem großen Unternehmenskonzern vergleichbar". Bauvorhaben wie das Technologiezentrum 22@Barcelona, die Nutzung der Innenhöfe als Raumreserven, der Ausbau von Hafen und Flughafen, Projekte zum Umweltschutz sowie das Bemühen um ein soziales und umweltpolitisches Gleichgewicht zeugen davon, dass Barcelona sich an diese Maximen hält.

siehe auch für zusätzliche Informationen:

ausgewählte weitere Meldungen vom Roto-Pressetag in Barcelona am 13.10.2010:

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