Darf's auch 'ne Isolierglas-Scheibe mehr sein? Nicht unbedingt!
(28.10.2015; upgedatet am 9.11.2015: Die 2. Tabelle „Einbaudicke / Gewicht“ wurde korrigiert und ausgetauscht.) Immer wieder sehen sich Fenster- und Fassadenbauer mit der Frage nach Vierfach-Isoliergläsern konfrontiert. Warum auch nicht? Schließlich ist allgemein bekannt, dass ein Dreifach-Isolierglas „besser“ ist als ein Zweifach-Glas. Der logische Schluss wäre also, anzunehmen, dass eine Vierfach-Verglasung „besser“ ist als ein Dreifach-Glas.
Was ist „besser“?
Mit dem Attribut „besser“ wird hinsichtlich Fenstern und Fassade fast immer und ausschließlich ein noch niedrigerer Ug-Wert verbunden. Aber das System „Vierfach-Glas“ muss auch mechanisch, thermisch und wirtschaftlich betrachtet werden; außerdem sind Lebensdauer, Gesamtenergiebilanz und die zunehmende Komplexität zu berücksichtigen.
Ug-Wert Betrachtung
Welche (U-)Werte können wirtschaftlich überhaupt sinnvoll erreicht werden? „Wirtschaftlich“ bedeutet in diesem Zusammenhang eine übliche Fertigungstiefe mit technisch sinnvollen Scheibenzwischenräumen. Kryptonfüllungen sind wegen der hohen Kosten für die Gasfüllung durchaus schon grenzwertig. Andere Füllgase wie z.B. Xenon, mit denen man „Rekord-U-Werte“ erreichen könnte, lassen Bauprojekte erst recht aus dem Ruder laufen, denn solche Gase sind nur schwer verfügbar, sehr teuer und keinesfalls nachhaltig.
typische Ug-Werte (diese und alle weiteren Tabellen und Grafiken:
Saint-Gobain Glass Deutschland)
Einbaudicke / Gewicht
Vierfach-Glas wiegt vorneweg doppelt so viel wie Zweifach-Glas - es sei
denn, man würde mit dünneren Einzelscheiben im Glasaufbau
„tricksen“ (siehe u.a. auch Baulinks-
Einbaudicke / Gewicht
und Dicke von Standardaufbauten
Mechanik / Statik / Bemessung
Ein Zweifach-Isolierglas ist in seinem mechanischen Verhalten bezüglich der Wind- und Klimalasten noch überschaubar. Zudem stehen bewährte, anerkannte Modelle des physikalischen Verhaltens zur Verfügung, die ihren Weg in die amtlichen Bemessungsvorgaben wie die DIN 18008 gefunden haben. Mit jedem zusätzlichen Scheibenzwischenraum muss man sich aber die Frage stellen, inwieweit die alten Berechnungsmodelle noch funktionieren können. Warum die Frage berechtigt ist, zeigt ein Vergleich der thermischen Belastungen von Zweifach-, Dreifach- und Vierfach- Isoliergläsern:
Berechnungen der
Solarstrahlung und des Lichttransmissionsgrades nach
DIN EN 13363-2 (Grafiken
vergrößern)
Thermisch-mechanische Eigenschaften
Kann man bei Dreifach-Isoliergläsern (bei Standardaufbauten) noch annehmen, dass die beiden Scheibenzwischenräume in etwa die gleichen Temperaturen aufweisen, so muss man dies bei Vierfach-Isolierglas überdenken: Während bei Dreifach-Isoliergläsern angenommen werden kann, dass bei gleicher Biegesteifigkeit der äußeren Scheiben die Scheibenzwischenräume den gleichen isochoren Druck (Klimalast) haben (was bedeutet, dass die mittlere Scheibe, was die Druckbelastung angeht, praktisch lastfrei ist), kann man von dieser Annahme bei Vierfach-Gläsern aufgrund der hohen Temperaturunterschiede zwischen den inneren und äußeren Scheiben nicht mehr ohne Weiteres ausgehen. Das bedeutet: Allein schon aus thermischen Gründen müssen die mittleren Scheiben des hier beispielhaft untersuchten Vierfach-Isolierglases thermisch vorgespannt werden (ESG-H).
Statische Berechnung / Bemessung
Die statische Berechnung von Isolierglas wurde für Zweifach-Verglasungen entwickelt und hat sich auch bewährt. Durch die ähnlichen isochoren Drücke in den Scheibenzwischenräumen von Dreifach-Isoliergläsern kann man diese auch noch hinreichend sicher statisch bemessen. Für Vierfach-Isoliergläser ist dieses Modell nicht übertragbar. Unterschiedliche Temperaturen in den drei Scheibenzwischenräumen erzeugen auch unterschiedliche isochore Drücke. Damit bleiben bei Vierfach-Isolierglasscheiben - auch bei gleicher Biegesteifigkeit der Außenscheiben - die inneren Scheiben im Gegensatz zu Dreifach-Isolierglas nicht mehr lastfrei. Verifizierte und geeignete Rechenmodelle stehen laut Ralf Vornholt, Marketing Technik bei Saint-Gobain Glass Deutschland, dafür aber (noch) nicht zur Verfügung.
Um einen solchen Aufbau zu simulieren, wurden im nachfolgenden Beispiel die Vierfach-Isoliergläser als Dreifach-Gläser mit entsprechend großem Scheibenzwischenraum angesetzt. Statt eines Aufbaus von 4-12Ar-4-12Ar-4-12Ar-4 wurde ein Dreifach-Isolierglas mit dem Ersatzaufbau 4-18Ar-4-18Ar-4 berechnet. Es ist davon auszugehen, dass die Ergebnisse der vorliegenden Berechnung geringere Spannungsüberschreitungen als real ausweisen:
Rahmenbedingungen der statischen Berechnungen nach DIN 18008-2 (Glas im Bauwesen - Bemessungs- und Konstruktionsregeln - Teil 2: Linienförmig gelagerte Verglasungen):
- Windlast: Druck 0,46 kN/m², Sog -0,65 kN/m²
- Ortshöhen: Lastfall höher 7,2 kN/m², Lastfall tiefer -3,6 kN/m²
- Klimalast: Sommer 8,87 kN/m², Winter -12,5 kN/m²
- Zur Simulation der Vierfach-Isoliergläser wurde aufgrund der drei Low-E-beschichteten Scheiben eine erhöhte Absorption gemäß DIN 18008-2 angenommen.
Aufgrund des thermomechanischen Verhaltens müssen Vierfach-Isoliergläser für Fenster und Fenstertüren bereits in üblichen Abmessungen als Einscheiben-Sicherheitsglas ESG ausgeführt werden. Ebenso, wie es keine verifizierten Berechnungsmodelle für die Glasdimensionierung gibt, gibt es keine Erfahrungen und Erkenntnisse über die Beanspruchung und die Dauerhaftigkeit des Randverbundes. Aufgrund des hier beschriebenen Verhaltens muss man allerdings davon ausgehen, dass die Belastung des Randverbundes sehr hoch ist. Dies hat also mit hoher Wahrscheinlichkeit einen deutlichen Einfluss auf die Lebensdauer des Isolierglases. Das heißt: Von einer verkürzten Lebensdauer eines Vierfach-Isolierglases im Vergleich zu Zweifach- und Dreifach Isoliergläsern ist daher auszugehen.
Energieeinsparung / Energieeffizienz
Die Darstellung von Energieeinsparung und Effizienz ist nicht so einfach und griffig wie die der Wärmedämmung. Für die Betrachtung von Glas und Fenster lässt sich die Energieeffizienz nach der DIN EN ISO 1077 bewerten. Hier wird anhand der wichtigen Leistungseigenschaften von Glas und Fenster unter Berücksichtigung der Klimadaten eine Bilanzierung möglich. Dabei werden gegenübergestellt ...
- die Energieverluste, festgehalten durch die jeweiligen Uw- und Ug-Werte,
- den solaren Energiegewinnen durch das Glas (g-Wert).
Die folgende Tabelle zeigt eine solche Bilanzierung, bei der verschiedene Zweifach-, Dreifach- und Vierfach-Isoliergläser verglichen werden. Negative Werte stellen einen Netto-Energiegewinn dar, positive Werte stellen einen Netto-Energieverlust dar. Der Bewertungszeitraum beläuft sich über ein Jahr:
Vordergründig lässt sich bei sehr hellen Vierfach-Isoliergläsern ein Nettoenergiegewinn berechnen. In der Regel ist dieser Gewinn jedoch nur unter optimalen Bedingungen nutzbar. Dazu gehört z.B. eine optimale Lage des Gebäudes. Tallagen mit beschränkten Sonnenstunden oder Verschattungen durch andere Gebäude in Innenstadtbereichen lassen eine solche Bilanz auch sehr schnell kippen.
Auch der sommerliche Wärmeschutz muss akribisch geplant werden, damit die gute Energiebilanz der Fenster durch übermäßige Klimatisierung und Kühlung nicht wieder zunichte gemacht wird.
Dieser Nettogewinn ist also nur eine theoretische Rechengröße. Betrachtet man diese über den gesamten Lebenszyklus des Glases, kann es schon dramatisch anders aussehen: Mit der Durchführung einer Lebenszyklusanalyse werden die Umwelteinwirkungen von Produkten transparent. Dies gilt vor allem für den zur Herstellung notwendigen Energieeinsatz und die anfallenden CO2-Emissionen. Verglichen mit Dreifach-Isolierglas verbraucht die Herstellung von Vierfach-Isolierglas ca. 172 % mehr Energie und mehr als doppelt so viel Wasser:
Die Veränderung der Ladekapazitäten beim Transport wurde bei dieser Berechnung noch nicht einmal berücksichtigt. Für den Transport von Vierfach-Isolierglas ist im Vergleich zu Zweifach-Isolierglas die doppelte Transportkapazität notwendig.
Fazit dieser Betrachtung
Das Konzept „Darf es eine Scheibe mehr sein?“ macht nicht immer Sinn. Der Grund: Bei technischen Systemen zieht die Veränderung von Einzelkomponenten auch immer eine Veränderung des gesamten Systems nach sich. Durch die physikalischen Wechselwirkungen der einzelnen Komponenten eines Fensters, bzw. Isolierglases, steigt die Komplexität solcher Systeme überproportional an. Zusammenfassend lässt sich also feststellen:
- Eine Erhöhung des Nutzens durch die Verwendung von Vierfach-Isolierglas ist nur bei wenigen Glasaufbauten darstellbar und dies auch nur unter formal optimalen Randbedingungen.
- Der ökologische Nutzen ist durch den überproportionalen Energieaufwand bei Herstellung und Transport des Glases mehr als fraglich. Ein Teil des hohen Energieverbrauchs ist der Notwendigkeit geschuldet, bei Vierfach-Isolierglas aus thermo-mechanischen Gründen Einscheiben-Sicherheitsglas ESG einzusetzen.
- Die Frage nach der Lebensdauer von Vierfach-Isoliergläsern lässt sich zurzeit aufgrund fehlender zuverlässiger Bewertungsmöglichkeiten der dauerhaften Belastungen der Randverbundsysteme nicht ausreichend sicher beantworten.
- Eine Kostenamortisation dürfte wegen des Fertigungsaufwandes bei gleichzeitig minimaler Verbesserung der Leistung im Vergleich zu Dreifach-Isolierglas illusorisch sein.
- Schließlich muss abschließend auch noch die Frage nach der Ästhetik gestellt werden. Bei vier beschichteten Gläsern, davon drei Scheiben zu ESG vorgespannt, dürfte eine verzerrungsfreie Durchsicht eher die Ausnahme als die Regel sein. Weiterhin muss es dem Endverbraucher auch gefallen, dass seine Vierfach-Isoliergläser stark spiegeln.
Bei der Überlegung, ein Vierfach-Isolierglas einzusetzen, sollten sich Planer und Bauherren also die Frage stellen, ob sie durch den erheblichen Mehraufwand einen wirklichen ökologischen, energetischen und wirtschaftlichen Mehrwert erwerben – oder lediglich einen Marketinggag.
Weitere Informationen zu Drei- und eventuell auch Vierfachverglasung können per E-Mail an Saint-Gobain Glass angefordert werden.
siehe auch für zusätzliche Informationen:
- Dreifach-Leichtverglasungen auf dem Gewichtslevel von Standard-Zweifach-Verglasungen (2.7.2020)
- SGG Eclaz: Neue Generation von Wärmeschutzgläsern für 2- und 3fach-Isolierverglasungen (10.2.2017)
- Auf 176 Seiten: Glasschäden am Bau vermeiden (16.11.2016)
- Glasstec 2016: Glasbranche wieder positiver gestimmt (25.9.2016)
- Unzulässig: „Warme Kante“ von Fenstern nicht auf Pfosten-Riegel-Fassaden übertragbar (15.7.2016)
- weitere Details...
ausgewählte weitere Meldungen:
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- „GlassPro“: Glasfassaden-Planung per App von Saint-Gobain Glass (5.6.2015)
- Leichtere Isoliergläser im Sinne von Energieeffizienz, EnEV, Energiewende und Co. (27.8.2014)
- Sommer Informatik fasst Glas-Berechnungsprogramme in einer Plattform zusammen (27.8.2014)
- Die Last des (Fenster)Gewichts bringt Dünngläser ins Spiel (15.8.2012)
- Studie: „Größere Fenster braucht das Haus“ (14.12.2011)
- Warum beschlagen dreifach verglaste Fenster? Und zwar außen! (15.5.2008)
siehe zudem:
- Statik-Software und TGA-Programme im Bau IT-Magazin sowie Isolierglas, Glasfassaden und Fenster-Magazin bei Baulinks
- Literatur / Bücher zu Fassade bei Amazon