Spontanbruch von Einscheiben-Sicherheitsglas (ESG)
(17.7.2003; upgedatet am 15.5.2008) In den letzten Jahren ist das Einscheiben-Sicherheitsglas (ESG) mehrfach z.T. auch unberechtigt ins Gerede gekommen. Auslöser waren Spontanbrüche, bei denen scheinbar auch ohne erkennbare äußere Einwirkungen ESG-Scheiben zersprangen und brachen. Zu dem aktuellen Thema Spontanbruch, den Möglichkeiten, diesen nachhaltig zu verhindern, und auch zu anderen möglichen Bruchursachen äußert sich im Interview Dr. Andreas Kasper. Dr. Kasper arbeitet in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von SAINT-GOBAIN GLASS DEUTSCHLAND und ist zudem Privatdozent an der RWTH Aachen im Fach Chemie und Technologie des Glases.
Was ist ein Nickelsulfid-Bruch und wie kommt es dazu?
Der durch Nickelsulfideinschlüsse im Glas hervorgerufene Bruch
ist der Spontanbruch im engeren Sinn. Betroffen ist grundsätzlich nur thermisch
vorgespanntes Glas, das auch als Einscheibensicherheitsglas (ESG) bezeichnet
wird. Das Glas bricht tatsächlich "spontan", d.h. ohne jede Einwirkung von
außen.
Beim Spontanbruch liegt die Ursache des Bruchs im Glas selbst. Er ist auf
Nickelsulfid-Einschlüsse zurückzuführen, die sehr selten sind. Die
Nickelsulfid-Einschlüsse sind so klein, dass sie nicht automatisch entdeckt
werden können und stellen für ESG eine ernste Gefahr dar.
Nickelsulfid (NiS) kommt in zwei Arten vor: bei hohen Temperaturen über 379°C
ist es beständig. Darunter, also auch bei Raumtemperatur, wandelt es sich
langsam um. Die Umwandlung geht um so langsamer vonstatten, je tiefer die
Temperatur ist. Solche Phasenumwandlungen kommen in der Natur häufig vor. Das
Ungewöhnliche beim Nickelsulfid ist jedoch, dass der Einschluss sich dabei
ausdehnt. Er drückt folglich mit zunehmender Kraft auf das Glas in seiner
unmittelbaren Umgebung. Wenn er sich noch dazu in der Zugspannungszone des ESG
befindet, d.h. in der inneren "Hälfte" des Glasvolu-mens, bildet sich nach einer
gewissen Zeit ein Riss im Glas. Die Scheibe zerspringt "spontan" mit einem
lauten Knall in Tausende von kleinen Scherben.
Wie beurteilen Sie die neuen Anforderungen des Gesetzgebers, diese Art von Glasbruch auszuschließen?
Bis es zum Spontanbruch kommt, kann bei üblichen
Umgebungstemperaturen eine lange Zeit vergehen. Wenn ein Glas einen
Nickelsulfid-Einschluss enthält, hängt die Zeitdauer bis zum Eintritt des Bruchs
von der Temperatur ab, der die Scheibe ausgesetzt ist. In Ermangelung eines
besseren Mittels wurde daher schon vor längerer Zeit ein "Test" entwickelt, der
solche verseuchten Scheiben ganz am Ende der Produktionskette zerstört. Das ist
die so genannte Heißlagerungsprüfung nach
DIN 18516, die im englischen Sprachgebrauch als Heat Soak Test (HST)
bezeichnet wird.
DIN 18516 bietet nur eine grobe Umschreibung des Testverfahrens. Der Anwender
hat daher einen großen "Interpretationsspielraum", der offensichtlich auch
ausgenutzt wurde, denn immer wieder kam es in der Vergangenheit zu
Spontanbrüchen an Gebäuden, beispielsweise in Berlin und London.
Der HST ist ein komplexer technischer Prozess. Daher hat sich seit ca. sechs
Jahren ein Arbeitsausschuss der europäischen Normierungsbehörde mit dieser Frage
befasst und die wesentlichen Bedingungen ausgearbeitet, die bei der Heißlagerung
erfüllt werden müssen. Wir - in erster Linie die SAINT-GOBAIN-Tochter Temperit
AG in Hinwil in der Schweiz als Lieferantin der Basisdaten, und meine
Arbeitsgruppe bei SGGD / Abteilung Forschung und Entwicklung Bauglas mit der
statistischen Auswertung und Interpretation dieser Daten - haben dabei den bei
Weitem bedeutendsten sachlichen Beitrag geliefert.
Stark verkürzt, hat der neue europäische Normenentwurf der prEN14179-1
folgenden Inhalt. Das Glas (nicht die Ofenatmosphäre!) wird auf eine Temperatur
zwischen 280°C und 300°C aufgeheizt und verbleibt dort für mindestens zwei
Stunden (in Deutschland vier Stunden), was jedoch nicht unbedingt zu einer
Verkürzung des Heißlagerungstestes insgesamt führt. Das Erreichen des
Temperaturintervalls wird nachgewiesen, indem Prüfscheiben mit aufgeklebten
Thermoelementen getestet werden. Diese Kalibrierung muss durch ein offiziell
anerkanntes Prüfinstitut durchgeführt werden. Das so gefertigte Produkt heißt
ESG-H, d.h. heißgelagertes Einscheibensicherheitsglas.
Heute haben alle SECURIT-Partner die vorgeschriebene, notwendige Zertifizierung
für das Heißlagern. Das heißt, jeder Ofen ist fremdüberwacht, die Partner nehmen
für jeden Ofen eine werkseigene Produktionskontrolle vor, archivieren mindestens
zehn Jahre lang alle Daten über die Herstellung jeder einzelnen ESG-Scheibe und
erbringen quartalsweise die erforderlichen Prüfungen.
Welche Risiken bestehen für Planer und den Bauherrn, dass es zu einem solchen Spontanbruch kommt - bezogen auf eine Baustelle von 100 m² bzw. 10.000 m² und eine Lebensdauer von maximal 50 Jahren?
ESG-H, das nach der EN bzw. der Bauregelliste hergestellt wurde,
ist nach heutigem Wissen vor Spontanbrüchen praktisch sicher.
Das bedeutet, dass das Restbruchrisiko sehr gering ist, aber es ist nicht gleich
Null. Für eine Baustelle von 10.000 m² hängt das Restbruchrisiko natürlich von
der Dicke der Scheiben ab - je dicker, desto höher die Masse der Scheiben und
desto wahrscheinlicher wird ein Bruch. Gehen wir von einer mittleren Glasdicke
von 8 mm und der Verwendung von ESG-H in einer Vorhangfassade aus, berechnet man
ein jährliches Restbruchrisiko von 1%. Anschaulich bedeutet das, dass von 100
Baustellen mit je 10.000 m² ESG-H nur eine einzige einen Spontanbruch im Jahr
aufweisen wird.
Bei einer Baustelle von nur 100 m² ist das Spontanbruch-Restrisiko daher
verschwindend gering. Das sollte aber keinesfalls dazu führen, dass man den
Heißlagerungstest für kleinere Fassadenobjekte vernachlässigt. Ungetestetes
Glas hat ein nahezu hundertfach höheres Bruchrisiko, und im Gegensatz zum
getesteten Glas ist es nicht berechnet und hypothetisch, sondern sehr real. Es
ist in einem Einzelfall verbürgt, dass drei von vier ungetesteten
Brüstungsscheiben spontan wegen Nickelsulfid zerbrochen sind.
Es wird häufig schnell von NiS als Bruchursache gesprochen; welche anderen Bruchursachen können Sie aus Ihrer Praxis benennen, die für ein Spontanversagen in Frage kommen?
Vorgebliche Spontanbrüche, d.h. Brüche, die nicht durch Nickelsulfid ausgelöst werden, können sehr verschiedene Ursachen haben:
- Auf der Baustelle entstehen sie oft durch Unachtsamkeit oder unbemerktes Anstoßen beim Transport und Einbau. Kantenbeschädigungen schwächen das Glas und können noch nachträglich bei vergleichsweise geringer Belastung zum "Spontan"bruch führen.
- Wenn ein Glaselement bei der Montage nur knapp passt und trotzdem eingebaut wird, kann es später wegen der unterschiedlichen thermischen Dehnungen zerspringen.
- Kurzzeitige Überhitzung im Kantenbereich bei Montagearbeiten, z.B. durch Schweißarbeiten, kann so genannte Kühlrisse verursachen, die noch Tage später zum Versagen des Glases führen.
- Auch Setzungen an Gebäuden können Jahre nach der Errichtung allmählich unzulässigen Druck auf das Glas ausüben und eine Serie von Brüchen auslösen.
Alle diese Bruchursachen lassen sich normalerweise gut nachvollziehen, wenn man den Bruchausgang findet und untersuchen kann. Eine Zerstörung des Glases durch eine punktförmige Krafteinwirkung hat die gleichen Merkmale - nämlich den so genannten Bruchschmetterling - wie die Zerstörung des Glases durch Nickelsulfid-Einschlüsse. Das Auftauchen eines Bruchschmetterlings ist daher nicht notwendigerweise auf einen Nickelsulfid-Einschluss zurückzuführen.
Die SECURIT Partner verwenden eine besondere Form des Nachweises. Welche Vorteile hat das für den Verarbeiter, den Bauherrn bzw. den Planer?
SECURIT-H unterscheidet sich äußerlich in keiner Weise von herkömmlichem
SECURIT-Glas. Daher hat SAINT-GOBAIN GLASS für die SECURIT Partner einen eigenen
"HST-Marker" entwickelt, um die Durchführung des Tests jederzeit sichtbar
nachzuweisen. Nach dem Vorspannen, aber vor dem Heißlagern wird auf dem Glas im
Produktstempel eine spezielle blaue Farbe punktförmig aufgebracht. Während des
Tests schlägt die Farbe in einen bräunlichbeigen Farbton um. Bei höheren
Temperaturen dagegen verwandelt sie sich in ein loses Pulver, das vom Glas
abbröckelt. Eine Fälschung durch Auftragen vor dem Vorspannprozess ist daher
nicht möglich.
Diese Farbe dient primär der internen Kontrolle und Logistik. Es wird
sichergestellt, dass Glas nur dann verpackt wird, wenn es dem Heißlagerungstest
"offensichtlich" unterzogen wurde.
Für den Kunden wird die Durchführung des Heißlagerungstests ebenfalls
unmittelbar überprüfbar. Das Vertrauen der Abnehmer in die SECURIT Partner wird
gestärkt, und das Risiko, später Schwierigkeiten mit dem entsprechenden Gebäude
aufgrund von Spontanbruch zu haben, wird nahezu ausgeschlossen.
Update vom 15.5.2008: Ausgelöst durch ein Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart keimt eine alte Diskussion wieder auf: Die Rede ist von Spontanbrüchen durch Nickelsulfid-Einschlüsse, bei denen ESG ohne Außeneinwirkung "spontan" bricht. Dank entsprechender Sicherheitsmaßnahmen liegt aber die Wahrscheinlichkeit, dass eine Scheibe ESG-H bricht, statistisch bei gerade einmal 0,0001% - siehe auch Beitrag "Beratungspflicht bei ESG und ESG-H".
siehe auch:
- Sicherheitsglas: SECURIT-HF löst SECURIT-H ab (30.3.2021)
- Neue Beschichtung von Euroglas verhindert das Beschlagen von Fenstern von außen (14.12.2011)
- Neues reflexionsarmes Glas für bauliche Anwendung von Pilkington (13.12.2011)
- Neues 2fach-Isolierglas mit einer Selektivitätskennzahl von 2,22 (13.12.2011)
- Referenten-Service: Fertige Powerpoint-Folien zum Thema Glas von Interpane (13.12.2011)
- weitere Details...
ausgewählte weitere Meldungen:
- fälschungssicherer Nachweis für geprüftes Einscheiben-Sicherheitsglas (2.2.2003)
- "SECURIT-PARTNER": Neuer Verbund zwischen Sicherheitsglas-Herstellern und SAINT-GOBAIN GLASS (6.12.2002)
siehe zudem:
- Glasecken. Konstruktion, Gestaltung, Beispiele
- Intelligente Glasfassaden. Material, Anwendung, Gestaltung.
- Tragendes Glas. Elemente, Konzepte, Entwürfe
- Lichtdurchflutet. Inspirative Architektur und Design aus Glas
-
Falling Glass. Englische Ausgabe. Glasschäden in der neueren Architektur