Villa Tugendhat: Kleiner Rundgang durch die Ikone moderner Architektur
(12.10.2012) Wenig spektakulär wirkt Mies van der Rohes Meisterwerk vom Haupteingang an der Brünner Cernopolní-Straße aus betrachtet: Hier ähnelt es mehr einem schlichten Bungalow mit angeschlossener Garage (siehe auch Google-Maps). Lediglich eine runde Wand aus gegossenem Milchglas zieht den Blick auf sich:
Umso beeindruckender die Ansichten in der darunterliegenden Etage des an einen Hang gebauten Einfamilienhauses. Hier entfaltet sich das ganze Ausmaß der einzigartigen Architektur des 1930 fertiggestellten Wohnhauses mit immerhin 1.250 m² Nutzfläche. Gebaut für die Brünner Textilfabrikanten Fritz und Grete Tugenthat für einen damals horrenden Betrag (es galt damals als das teuerste Einfamilienhaus weltweit), aber auch mit bemerkenswertem Mut zu einem seinerzeit völlig neuen Architekturkonzept.
Auf der Süd- und Ostseite geben großzügige, vom Boden bis zur
Decke reichende Fensterflächen einen weiten Blick auf die Umgebung
frei. Außerordentlich angesichts des Baujahrs: Sie können
elektrisch im Boden versenkt werden. Ebenfalls ein Novum für den
Wohnungsbau der Zwanziger Jahre: Das Haus besteht aus einer
Stahlskelettkonstruktion, bei der es keine Tragwände gibt. Das
Gewicht wird von Stahlträgern mit X-
Großzügigkeit und die Verbindung von Innen und Außen prägen die Gestaltung des 15 x 24 Meter großen Untergeschosses. Bis auf die Küche offen gehalten und nur durch einzelne Elemente in Eingangs-, Arbeits-, Ess- und Sitzbereich eingeteilt, präsentiert sich hier eine luftig moderne Raumgestaltung.
Bodenflächen aus Travertin, eine äußerst wertvolle Trennwand aus orange-braunem Onyx, der gläserne Esstisch mit verchromter Kreuzstütze, Türen aus Palisander sowie die von Mies entworfenen „Barcelona-Sessel“ in grün und die eigens für dieses Projekt geschaffenen weißen „Tugendhat-Sessel“ ergänzen sich auf stimmige Weise.
Eine eigene Geschichte besitzt die halbrunde Trennwand am Essbereich, die seit 1940 als verschwunden galt: Ursprünglich hergestellt aus wertvollem und heute kaum noch käuflichen Makassar-Holz (auch Ebenholz genannt), wäre ihre Nachbildung bei der Restaurierung des Hauses nicht mehr möglich gewesen. Umso glücklicher war man 2011 über die zufällige Wiederentdeckung der Abtrennung in der Mensa der juristischen Fakultät von Brünn: Während des Zweiten Weltkriegs hatte die Gestapo das Element als Verzierung ihrer hier eingerichteten Bar verwendet.
Zwei Eltern-Schlafzimmer, ein Tagesraum, das Schlafzimmer für die Kinder und ihre Erzieherin sowie zwei Badezimmer bilden das Obergeschloss der Villa Tugendhat. Alle Fenster sind nach Süden ausgerichtet. Über eine große überdachte Terrasse ist die Treppe in den Garten zu erreichen.
Lohnend auch der Gang in den Keller: Hier präsentiert sich die Gebäudetechnik mit ihren für das Jahr 1930 absolut futuristischen Möglichkeiten: Eigene Lüftungszentrale zum Heizen im Winter und zum Kühlen im Sommer (Bild rechts), der Heizkesselraum und ein Maschinenraum für die versenkbaren Fensterflächen sind hier untergebracht. Außerdem das Fotolabor und der Tresorraum, in dem ursprünglich die wertvollen Pelzmäntel sicher und absolut mottenfrei aufbewahrt wurden.
siehe auch für zusätzliche Informationen:
- Nachbarbeitrag: „Villa Tugendhat“ von Mies van der Rohe mit reproduzierten, kalibrierten Rako-Fliesen wiedereröffnet
- Villa Tugendhat
- RAKO Wohnkeramik, Lasselsberger s.r.o.
- Callweys Häuser des Jahres: Die besten Einfamilienhäuser 2018 (15.10.2018)
- „Next to Bauhaus“: erstes Jahrbuch der Dessauer Schule (18.3.2018)
- Zurück zum Original im Corbusier-Haus Berlin mit DLW Linoleum (13.10.2012)
- Villa Tugendhat mit reproduzierten, kalibrierten Rako-Fliesen wiedereröffnet (12.10.2012)
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