Wärmedämmung unschuldig: Neue Erkenntnisse zum Brand am Londoner Grenfell Tower
(16.10.2018) In London arbeitet seit rund einem Jahr eine Kommission zur Aufklärung des Brandes am Grenfell Tower (siehe Google-Maps) am 14. Juni 2017. Sie wertete hierzu 400.000 Dokumente aus, befragte Experten sowie Feuerwehrleute und sichtete Fotos sowie Videos. Vorläufige Ergebnisse der noch laufenden ersten Untersuchungsphase hat Prof. Dr.-Ing. Michael Reick für die Oktober-Ausgabe des Magazins „BRANDSchutz / Deutsche Feuerwehr-Zeitung“ zusammengefasst.
An der Fassade des Grenfell Towers war demnach kein Polystyrol, sondern
Polyisocyanurat (PIR) als Dämmstoff in Dicken
zwischen 10 und 16 cm verbaut. Und so ist die Brandweiterleitung an der Fassade laut aktuellen Erkenntnissen
insbesondere durch die ACP-
Zu dieser ACP-Wetterschutzverkleidung wird weiter ausgeführt: „Die Masse der Verkleidung war aufgrund der geringen Stärke der PE-Platten zwar gering und die Wärmefreisetzung ging größtenteils in die äußere Umgebung, aufgrund der hohen Abbrandgeschwindigkeit und der damit verbundenen hohen Wärmefreisetzung hat dies jedoch offensichtlich ausgereicht, dass bereits nach kurzer Zeit weitere Entstehungsbrände in den über der Brandwohnung gelegenen Wohnungen auftraten.“
Die enorme Geschwindigkeit der Brandweiterleitung erklärt sich auch aus den Zustrom von Verbrennungsluft über die Hinterlüftung der Wetterschutzverkleidung. Es brannte nicht nur das Polyethylen, sondern auch das Aluminium der Wetterschutzplatten. Der Londoner Einsatzleiter verglich das Brandgeschehen mit einem „Magnesiumbrand“. Die Geschwindigkeit des Feuers wird so eingeschätzt: „Der Brand hatte sich daher innerhalb von nur 36 Minuten von einem Entstehungsbrand in der Küche zu einem Brand entwickelt, der über die Fassade alle 19 darüber liegenden Wohnungen unmittelbar bedrohte.“ Für die letzten 10 Stockwerke nach oben bis zum 22. OG brauchten die Flammen nur sieben Minuten. Danach begann zwischen 1:12 bis 4:03 Uhr die Brandweiterleitung über die Wetterschutzplatten um das Gebäude herum.
Kampagne gegen Polystyrol an Fassaden mit Grenfell Tower nicht begründbar
Die Wetterschutzverkleidung brannte völlig ab, während die Wanddämmung in großen Teilen erhalten blieb, sogar die gelbe Farbe der verbauten PIR-Platten war teilweise noch erkennbar. Gleichwohl wurde in den Tagen nach dem Brand verschiedentlich kolportiert, in London habe der Dämmstoff Polystyrol gebrannt - was gerne in die bereits seit 2011 laufende Medien-Kampagne gegen Polystyrol an deutschen Gebäudefassaden eingebaut wurde. Wissenschaftler hatten das bereits damals als unsachlich und falsch kritisiert, sie werden nun durch die Londoner Untersuchung bestätigt.
Am Grenfell Tower bewirkten innere und äußere Faktoren sowie zahlreiche Brandschutzmängel in einem komplexen Zusammenspiel den dramatischen Brandverlauf. Gegenüber diesem Brandinferno brennt Polystyrol aber „nur“ in der Breitenausdehnung des Primärbrandes nach oben und nicht um das Gebäude herum.
Zur Erinnerung: Brandereignisse mit Dämmstoffen sind bemerkenswert selten - siehe Beitrag „0,0038% Brandereignisse mit Dämmstoffen - aber besorgniserregender Brandhemmer“ vom 9.3.2015. Zudem ist in Deutschland die Verwendung von Polystyrol als brennbarer Baustoff in Hochhausfassaden seit 1984 verboten - was nicht heißt, dass es nicht Hochhäuser gibt, in denen mit Polystyrol gedämmt wird.
siehe auch für zusätzliche Informationen:
- als Onlinepublikation: „Brand im Grenfell Tower - erste Erkenntnisse“
- Deutsche Feuerwehrzeitung
- Energieinstitut Hessen
- Großbrand Essen: Erste Analyse vom Energieinstitut Hessen (1.3.2022)
- „Fixrock BWM Brandriegel Kit“ für VHF-Agraffenkonstruktionen (26.3.2019)
- Neuer Brandriegel von Isover aus Steinwolle für vorgehängte hinterlüftete Fassaden (6.3.2019)
- Brandschutz Kompakt 2019/2020 mit einem Fokus auf Neuregelungen im Bauproduktenrecht (3.3.2019)
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ausgewählte weitere Meldungen:
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- Studie von VHV und IFB zum Thema Fassadendämmung und Brandschutz (8.8.2017)
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- Brandgefährlich? Fraunhofer UMSICHT hat WDV-System mit Brandschutzputz getestet (11.7.2016)
- Brennt wie Stroh? Gesamtverband Dämmstoffindustrie widerspricht dem SPIEGEL (19.4.2015)
- 0,0038% Brandereignisse mit Dämmstoffen - aber besorgniserregender Brandhemmer (9.3.2015)
- AktivPlus e.V. bezieht Position zum WDVS-Bashing einiger Populärmedien (14.12.2014)
- Brandschutz hinterlüfteter Zinkfassaden (28.5.2012)
- VPB: So lässt sich Brandgefahr an Fassaden reduzieren (19.1.2012)
- Stellungnahme des DIBt zu "brandgefährlichen Polystyrol-Fassaden" (12.12.2011)
- Diskreditierung der Fassadendämmung laut Deutscher Energie-Agentur "haltlos" (12.12.2011)
siehe zudem:
- vorgehängte hinterlüftete Fassaden und Wärmedämmwerbundsysteme im Fassaden-Magazin sowie konstruktiver Brandschutz bei Baulinks
- Literatur / Bücher über Fassaden bei Baubuch / Amazon.de