Ernüchternde Zwischenbilanz bei einem Passivhaus-Modellprojekt in Wiesbaden
(19.10.2015) Die Wiesbadener Wohnbaugesellschaft mbH (GWW) hat in Wiesbaden-Südost für das Modellprojekt „Quartier F“ acht Mehrfamilienhäuser mit insgesamt 74 Wohneinheiten in verschiedenen Energieeffizienzstandards errichtet (siehe HERE-Maps und Google-Maps). Fertiggestellt wurde das Projekt 2013, gefolgt von einer 3-jährigen Analysephase.

Kaum messbare Einsparungen bei den Betriebskosten
Im Oktober 2015 zog GWW-Geschäftsführer Hermann Kremer eine erste Zwischenbilanz, die recht nüchtern ausfiel: „Den höheren Baukosten, die für ein Passivhaus aufgewendet werden müssen, stehen bislang kaum messbare Einsparungen bei den Betriebskosten gegenüber.“ Der Stromverbrauch der beiden Passivhäuser sei sogar deutlich höher als bei den EnEV-Häusern.
Das Modellprojekt wird bundesweit beobachtet, weil hier einige Gebäude miteinander verglichen werden können, die hinsichtlich ihrer Lage, der Ausrichtung, Abmessungen sowie Anzahl und Verteilung der Wohnungen identisch geplant sind und sich nur hinsichtlich der Baustandards unterscheiden. Die GWW hat in den Bau der acht Wohnhäuser, die im KfW-55-, EnEV-2009- und Passivhausstandard errichtet wurden, rund 11 Mio. Euro investiert.
Bereits während der Bauphase soll sich abgezeichnet haben, dass die Baukosten zwischen den einzelnen Standards stärker auseinanderdrifteten als ursprünglich vorgesehen. So lagen dem Vernehmen nach die Baukosten für die Passivhäuser um 13,5% über denen der Häuser, die nach der EnEV 2009 gebaut wurden. „Das macht bezogen auf den Quadratmeter eine Differenz von rund 250 Euro aus“, betont der GWW-Geschäftsführer. Die ursprüngliche Kalkulation ging von Mehrkosten in Höhe von maximal 12% aus.
Im Vergleich dazu blieb der finanzielle Mehraufwand für den Bau der vier Wohnhäuser, die den KfW-Standard 55 erfüllen, mit etwa 2% in einem überschaubaren Rahmen. Allerdings können auch laut GWW-Chef Kremer speziell die KfW-Wohnhäuser nicht wirklich in der Gesamtbetrachtung des Modellprojekts berücksichtigt werden, weil sie hinsichtlich der Lage und Ausrichtung nicht direkt mit denen der Passiv- und EnEV-Häuser vergleichbar sind.
Kaum Interesse an Passivhäusern, hoher Aufklärungsbedarf
Ende 2013 waren die Häuser bezugsfertig. Die Vermarktung der Passivhäuser war jedoch - wider Erwarten - kein Selbstläufer: „Es gab nur sehr wenige, die sich gezielt für eine Passivhauswohnung interessiert haben“, so die Erfahrungen von Katja Schiedung, Leiterin des verantwortlichen Kundenteams. Vielmehr bestand bei den meisten Interessenten ein sehr großer Aufklärungsbedarf. Aus diesem Grund wurde für die Mieter der Passivhauswohnungen auch noch mal alle relevanten Informationen über das Nutzungsverhalten in Schriftform zusammengefasst und mit Unterzeichnung des Mietvertrages ausgehändigt. „Trotzdem ergaben sich für viele Mieter nach ihrem Einzug immer wieder konkrete Verständnisfragen an unsere Techniker bezüglich des richtigen Heiz- und Lüftungsverhaltens“, berichtet Frau Schiedung.
Kaum Verbrauchsunterschiede erkennbar
Nach dem ersten Betriebsjahr der Wohnhäuser lässt sich noch kein signifikanter Unterschied zwischen den Energieverbrauchswerten der verschiedenen Wohnhäuser feststellen. Ganz im Gegenteil: „Der Heizenergieverbrauch ist in den Passivhäusern zwar niedriger als in den EnEV-Häusern. Doch dafür ist der Stromverbrauch deutlich höher“, betont der GWWGeschäftsführer.
Nutzerverhalten spielt große Rolle
Die Vorteile eines Passivhauses seien damit gegenwärtig noch nicht
erkennbar, so ein erstes Zwischenfazit. „Würde man den Energieaufwand für
die Herstellung der dickeren Dämmung, der dreifach Verglasung etc., die beim
Bau eines Passivhauses anfallen, in der Gesamtbetrachtung noch entsprechend
berücksichtigen, fiele die Energiebilanz der Passivhäuser deutlich
schlechter aus, da den erheblichen Mehraufwendungen kaum Einsparungen
gegenüber stehen“, ergänzt Thomas Keller, Leiter des GWW-
siehe auch für zusätzliche Informationen:
- Eversol: Energiewende in der Wohnungsbranche? (19.1.2021)
- Passivhaus Kompendium 2020: Klimagerecht bauen mit Passivhäusern (13.1.2020)
- Bachelorarbeit: „Energieausweise sind zahnlose Tiger“ (30.9.2018)
- 453 Seiten „Passivhäuser+“ (15.7.2018)
- Passivhaus Kompendium 2018 mit dem Untertitel „spürbar besser bauen“ (9.1.2018)
- weitere Details...
ausgewählte weitere Meldungen:
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- EU-Projekt „Sinfonia“ entwickelt Masterpläne für Sanierungen auf Quartiersebene (1.2.2015)
- Passivhaus und Passivhaus+ im Passivhaus Kompendium 2015 (11.1.2015)
- Online-Petition fordert Passivhausstandard für Niedrigstenergiehäuser (21.12.2014)
- Protokollband 42: Betrachtung der Lebenszykluskosten von Passivhäusern (1.7.2013)
siehe zudem:
- Passivhaus-Magazin, Solarstromspeicher und Photovoltaik von Baulinks
- Literatur / Bücher zum Thema Architektur bei Baubuch / Amazon.de