„Urban Voids“: Städtische Lücken suchen, finden und neu integrieren
(1.11.2015) Urban Voids sind Orte einer Stadt, die hinsichtlich ihrer Funktion und Ausgestaltung nicht abschließend festgelegt sind - wie z.B. Reserveflächen, Brachen, Abstandsflächen, Gebäudeleerstände, belastete oder ungenutzte Grundstücke. Im Rahmen eines deutsch-koreanischen Forschungsprojekts suchen Wissenschaftler des KIT nach Möglichkeiten, diesen städtische Lücken / Baulücken ohne konkrete Funktion einen neuen Sinn zu verleihen. Dabei konzentrieren sie ihre Suche exemplarisch auf zwei sehr unterschiedliche Orte:
- das vergleichsweise beschauliche Karlsruhe (rund 300.000 Bewohner, 1.724 Einwohner je km², siehe Google-Maps) und
- die Megacity Seoul (gut 10 Mio. Bewohner, 16.671 Einwohner je km², siehe Google-Maps)
Städte sind Orte randvoll mit Sinn und Zweck. Hier gibt es Flächen zum Wohnen und Arbeiten, für Kultur und Verkehr, Verwaltung und Dienstleistung, Erholung und Freizeit. Auf einem Stadtplan - so scheint es - ist kein Platz für Zwischenräume, kein Platz für Lücken ohne Funktion. Denn wo so viele Menschen, so viele Ansprüche zusammentreffen, muss der begrenzte Raum optimal genutzt werden.
Doch es gibt sie, die Funktionslücken der Stadt, die Urban Voids. Und sie können riesig sein. Der alte Hafen Londons (siehe Google-Maps) etwa oder das Tempelhofer Feld in Berlin (siehe Google-Maps) haben das Ausmaß eines ganzen Stadtviertels - und haben ihren ursprünglichen Sinn verloren. Doch in beiden Fällen wurde die gigantische Funktionslücke, die in der Metropole klaffte, mit neuem Zweck gefüllt:
- In den einst schmutzigen „Docklands“ in London wird heute „chick“ mit Blick auf die Themse gewohnt und gearbeitet. Vielen Städten gilt die britische Hauptstadt dabei als Vorbild für die Umnutzung ihrer eigenen brach liegenden Hafengebiete.
- Und das Tempelhofer Feld bietet heute – ganz im kreativen Berliner Bürgersinn – Raum für Erholung, Sport, Kultur und „Urban Gardening“.
Wachstum nach innen
„Gerade in Deutschland wollte man seit der Jahrtausendwende verhindern, dass Städte weiter in ihre Umgebung wachsen und unbebaute Fläche verbrauchen“, erinnert Kerstin Gothe, Professorin an der Fakultät Architektur des KIT und dortige Direktorin des Instituts Entwerfen von Stadt und Landschaft. „Stattdessen konzentrierte man sich auf das Wachstum nach innen. Fläche gab es dafür genug, weil viele Militärkasernen, Fabrikgelände, Warendepots oder eben Hafengebiete in deutschen Städten aufgeben oder massiv verkleinert wurden.“ Die meisten dieser Bereiche sind inzwischen in neue Wohngebiete oder Geschäfts- und Kulturviertel mit ansprechender Industriearchitektur umgewandelt worden. Nun stellen sich also zwei Fragen:
- Kann die Stadt weiter im Inneren kondensieren?
- Und kann dies behutsam und nachhaltig passieren?
„Wenn Städte auch künftig nicht nach außen in die Landschaft wachsen sollen, müssen wir innen fündig werden“, sagt Kerstin Gothe - und beschreibt damit die Aufgabe des deutsch-koreanischen Projekts „Urban Voids“: Die systematische Suche nach kleineren funktionslosen Restflächen und Strategien, diese mit neuem Nutzen in das Funktionsgefüge der Stadt zu integrieren.
Größere zusammenhängende Urban Voids in Karlsruhe
„Eine Erkenntnis im bisherigen Verlauf des Forschungsprojekts ist, dass die Voids in Karlsruhe und in Seoul grundsätzlich unterschiedliche Eigenschaften aufweisen“, erklärt Kerstin Gothe, die das Projekt zusammen mit Phillip Dechow am KIT leitet. In Karlsruhe - wie übrigens in vielen anderen deutschen Städten auch - finden wir tendenziell eher größere zusammenhängende Voids. So gibt es beispielsweise entlang vieler Einfallstraßen breite Streifen als „Abstandsgrün“ mit Lärmschutzwall. Diese sind zwar nach bisheriger Bewertung nicht nutzbar, nach einer Neueinschätzung erweisen sich viele von ihnen aber als Potenzialflächen für ganz unterschiedliche Nutzungen - sogar als mögliches Bauland für kleinere Wohnquartiere, sofern auf die Schallbelastung durch entsprechende bauliche Maßnahmen reagiert wird. In Karlsruhe konzentriert sich die Untersuchung daher darauf, größere, heute kaum beachtete oder als unnutzbar geltende Potenzialflächen zu identifizieren und Möglichkeiten der Nutzung durch Studien darzustellen.
Zerstückelte, kleinteilige Urban Voids in Seoul
„Anders ist die Situation der Voids in Seoul. Hier sind die Restflächen meist sehr zerstückelt und kleinteilig, so dass sie sich nicht für größere zusammenhängende neue Nutzungen anbieten. Andererseits befinden sich die Voids in Seoul oftmals in Quartieren mit starken Defiziten hinsichtlich der Lebensqualität und der ökologischen Situation. Hier erweisen sich die Voids als eine Art Flächenreservoir, das zur ökologischen Erneuerung und zur Aufwertung des Quartiers eingesetzt werden kann“, erläutert Kerstin Gothe. Beispielsweise könnten die Voids zur Begrünung des Quartiers eingesetzt werden, was positive Effekte auf das Mikroklima, die Wasserwirtschaft, die Luftqualität, Gesundheit und die Lebensqualität sowie die Biodiversität hätte. Manche Voids sollen auch eine wichtige Rolle bei der energetischen Sanierung von Gebäuden spielen können - etwa indem sie Pufferräume aufnehmen, die die Dämmung des Hauses verbessern oder indem hier Blockheizkraftwerke untergebracht werden, die mehr als ein Gebäude versorgen und damit eine höhere Effizienz erwarten lassen.
Paradigmenwechsel in der „Stadt ohne Gedächtnis“
In Seoul erweisen sich die Voids inzwischen als ein wichtiger Baustein für eine kleinteilige Quartierserneuerung, die mehr denn je im Fokus der südkoreanischen Stadtplaner stehen. „Die Megacity Seoul erlebt derzeit einen Paradigmenwechsel in der Stadterneuerung“, erklärt Philipp Dechow, der zwei Jahre als Gastprofessor in der Südkoreanischen Hauptstadt gelebt und gearbeitet hat. „Das bisherige System der Flächensanierung, bei dem ganze Stadtquartiere abgerissen werden, um neuen Hochhaussiedlungen Platz zu machen, erweist sich zunehmend als nicht mehr zeitgemäß und nachhaltig.“
Zum einen stößt das Finanzierungsmodell dieser Art der Stadterneuerung, das auf einer stetigen Erhöhung der baulichen Dichte basiert, an seine Grenzen - heute leben in Seoul etwa 10 Mio. Menschen auf einer Fläche in der Größe von Hamburg mit etwa 1,76 Mio. Einwohnern. Zum anderen wächst in der Bevölkerung der Widerstand gegen eine Erneuerungspolitik, durch die vorhandene soziale und funktionale Strukturen sowie alle historischen Spuren vernichtet werden. Einige schon beschlossene Flächensanierungen von Quartieren wurden mittlerweile gestoppt, neue Vorhaben wurden ausgesetzt.
Living Lab und Bauausstellung
Daher ist es ein Ziel der deutsch-koreanischen Kooperation, gemeinsam und mit den Erfahrungen aus Karlsruhe neue Konzepte und Strategien für den neuen Weg in Seoul zu entwickeln. Ein großer Meilenstein, der derzeit im Rahmen des Projekts geplant wird, ist das Seoul LivingLab, das im April 2016 veranstaltet wird. Eingeladen sind Experten aus Korea und Deutschland, um mit Unterstützung ausgewählter Studenten aus beiden Ländern und gemeinsam mit Bürgern integrierte Erneuerungskonzepte für ein konkretes Quartier in Seoul zu erarbeiten. Alle Beteiligten werden während des LivingLabs im Quartier leben, schlafen, essen, arbeiten und hier auch die Ergebnisse der Arbeit präsentieren, diskutieren und ausstellen.
Internationale Bauaustellung (IBA) als Vorbild
Zudem sollen im Living Lab auch die Möglichkeiten einer Großveranstaltung nach dem Vorbild der Internationalen Bauaustellung (IBA) sondiert werden. Erstmals wurde dieses Instrument 1901 bei der Künstlerkolonie Mathildenhöhe in Darmstadt eingesetzt. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelten sich die IBA schließlich zu einem Experimentierfeld der Stadtentwicklung und damit zu einem besonderen Markenzeichen der Planungskultur in Deutschland, das weltweit Anerkennung findet - siehe z.B. Beitrag „Die IBA Hamburg geht - aber ihre Projekte bleiben“ vom 3.11.2013.
Das Projekt „Urban Voids – Chancen für eine nachhaltige Stadtentwicklung“ ist Forschungkooperation zwischen KIT, SNU Seoul National University, ISA Internationales Stadtbauatelier Stuttgart/Peking/Seoul, gefördert durch das BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung und das koreanische Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Technologie.
siehe auch für zusätzliche Informationen:
- Neuer BBSR-Leitfaden zu Problemimmobilien (2.3.2020)
- Bauprojekte bedrohen urbane Grünflächen (in Stuttgart und Berlin) (3.1.2020)
- Studie von TU Darmstadt und Pestel-Institut macht Inventur: Wohnraum-Potenziale bei Nicht-Wohngebäuden (27.2.2019)
- Wohnungsbau und Brachflächenpotenzial (22.7.2018)
- 618 m²/Einwohner für Siedlung und Verkehr (19.11.2017)
- weitere Details...
ausgewählte weitere Meldungen:
- Gefordert: Grundsteuerreform zugunsten einer „Bodensteuer“ (19.10.2015)
- DBU informiert anlässlich der BAU über ressourcensparendes Bauen und Wohnen (16.1.2015)
- Bodenatlas 2015 beleuchtet Bedeutung, Nutzung und Zustand von Land, Böden und Agrarflächen (11.1.2015)
- Siedlungs- und Verkehrsfläche wächst immer noch um 73 Hektar täglich (21.12.2014)
- Flächenverbrauch weiterhin hoch: BBSR entwickelt Szenario der Landnutzung für 2030 (27.9.2014)
- Dissertation: Gebäude automatisch klassifizieren (27.7.2014)
- Kommunen könnten Brachen und Baulücken besser nutzen - wären sie bekannt (13.4.2014)
- Website zum KfW-Programm „Energetische Stadtsanierung“ online (30.3.2014)
- „DVD INKAR 2013“: Interaktiver Atlas veranschaulicht Lebenslagen in Deutschland und Europa (22.12.2013)
- Gebäude, Straßen und andere künstlich angelegte Flächen bedecken 5% der EU (27.10.2013)
siehe zudem:
- GIS und kommunale Verbände auf Baulinks
- Literatur / Bücher zu den Themen Regionalplanung, Stadtplanung und Stadtmarketing bei Amazon